Bericht Leonhard Ziegler
6. April 1945.
Das Leben in der Stadt ging seinen Gang wie an den Tagen vorher. Die Bäckereien, Fleischereien und
Lebensmittelgeschäfte (soweit sie durch die vorangegangenen Luftangriffe unbeschädigt waren) versuchten, die Bevölkerung mit dem
Notwendigen zu versorgen. Die Frauen waren beim Einkauf jederzeit gewärtig, von einem Luftangriff überrascht zu werden. Unangenehm war besonders, dass durch den Ausfall der Stromversorgung eine Sirenen–Warnung unmöglich war. Alle
Bewohner hatten die Überzeugung, dass in den nächsten Tagen für die Stadt folgenschwere Ereignisse kommen müssten.
Immer mehr Familien hörten trotz der bestehenden Gefahren ausländische Nachrichten–Sender ab, um sich ein Bild von der Lage zu verschaffen.
Trotz der Besorgnis, Angst und Unsicherheit vor dem
Kommenden herrschte bis zuletzt Unterordnung unter die bestehenden Vorschriften und Gesetze. Die Macht der Partei war scheinbar ungebrochen. Die Befehle der Kreisleitung wurden, wenn auch teilweise widerwillig, ausgeführt. "Wer dies und das nicht macht, wird
erschossen, wird aufgehängt". Das waren die täglichen Unterstreichungen der Parteiführer. Fremde Menschenleben wurden von ihnen sehr gering eingeschätzt. Niemand wagte, die bestehenden Rationierungsgesetze zu umgehen und Brot oder Fleisch ohne Marken zu
verkaufen. Erst als der Amerikaner nur noch wenige Kilometer von der Stadt entfernt waren, wurde die Erlaubnis erteilt, Butter und Mehl in begrenzter
Menge über die Rationen hinaus zu verkaufen. Beim Anstehen vor den Lebensmittelgeschäften wurden die Einwohner vom
Einmarsch der Amerikaner überrascht.
Der Großteil der Einwohner war über die tatsächliche Lage nicht unterrichtet. Die Kreisleitung scheute sich nicht, zur Stützung ihrer Macht die
unwahrscheinlichsten Parolen unter die Bevölkerung zu bringen. Der klare Sinn für Tatsachen sollte in der Bevölkerung betäubt und die im Geheimen
arbeitende Kritik mundtot gemacht werden. So konnte man hören: "In zwei Tagen werden die neuen Geheimwaffen
eingesetzt. Generalfeldmarschall Kesselring sei durch die Stadt gekommen auf dem Wege zur Front, um die
Gegenoffensive einzuleiten. Dieser oder jener habe ihn gesehen und mit ihm gesprochen. Aushalten! Stillhalten!
Nur noch Tage ... usw."
Trotz dem wurde in der Bevölkerung vereinzelt bekannt, dass die Kreisleitung am Morgen des 6. April den Räumungsbefehl für die Partei herausgegeben
hatte. Bis zur Nacht sollte Geheimhaltung erfolgen, um die Leute nicht zu beunruhigen. Es war ja aus anderen Städten allgemein bekannt, dass die Parteiführer beim Herannahen des Feindes sich rechtzeitigin Sicherheit brachten und die Stadt und die Bevölkerung ihrem Schicksal
überließen.
Gegen 5 Uhr nachmittags besuchte ich einen Freund im Osten der Stadt. Plötzlich ertönten
Gewehrschüsse, zwischendurch hörte man Einschläge von schweren Geschossen. Meine Bekannten und ich liefen
von der Schönebürgstraße etwa 100 Meter in Richtung Goldbach den Mittleren Weg hinaus, weil dort ein Deckungsgraben war. Nach kurzer Zeit war es
klar, dass die Amerikaner in Richtung Satteldorf stehen mussten.
Ich hatte schon früher den Plan gefasst, wenn irgend möglich, die Stadt vor der Beschießung zu bewahren und hatte zu diesem Zweck stets eine Packung
Mulllagen in der Tasche. Gerade, weil die gesamte Bevölkerung noch in der Stadt war, weil keine Warnung und kein Alarm
erfolgte, musste schnell und bedenkenlos etwas unternommen werden. Nachdem meine Bekannten in dem Deckungsloch an der Stadtgrenze in Sicherheit waren,
ging ich an einen in der Nähe liegenden Haufen mit Bohnenstangen, fertigte imGehen mit meinen Mull-Lagen eine weiße Fahne und lief damit in Richtung Sportplatz
den Hohlweg hinauf, der zum Krekelberg führt. Kurz hinter dem Sportplatz begegnete mir ein älteres Ehepaar: Auf die Frage:“ Was ist los?“ rief ich
hastig:
"Der Amerikaner ist
da!" Eine kurze Wegstrecke weiter bekam ich von links aus Richtung Volksfestplatz Gewehrfeuer. Ich
konnte die Leuchtspurmunition deutlich sehen und die Schoßrichtung erkennen. Schon nach kurzer Zeit war ich aber in Deckung weil der Weg als Hohlweg nach oben führt.
Hinter dem Krekelberg, den Karlsberg zur Linken, lief ich in Richtung Eisenbahnübergang Satteldorf und sah nach kurzer Zeit schon die Panzerkolonne der Amerikaner auf der Straße Satteldorf–Crailsheim in Bewegung. Das Geräusch der
Panzerketten war weithin zu hören. Als ich
näher kam, hatte die Kolonne die Bewegung eingestellt. Beim Laufen mit
der weißen Fahne hatte ich mehr Sorge, von etwa versteckt liegenden deutschen Soldaten beschossen zu werden als von Amerikanern.
Die amerikanischen Soldaten sahen mich sehr
bald Ich lief auf sie zu und rief. "Wo ist der Kommandant?" Ein Soldat packte mich am Ärmel und führte mich einige
Panzer weiter vor. Dort wurde ich einem amerikanischen Offizier gegenübergestellt, der mich auf deutsch fragte, ob ich der Bürgermeister sei. Ich verneinte dies, und auch die weitere Frage, ob ich sein Stellvertreter wäre. Ich gab an, ich käme im Auftrage der Bevölkerung und sagte dem Offizier, dass die Stadt Crailsheim nicht verteidigt werden würde. Auch bat ich, das Feuer einzustellen und
erklärte mich bereit, die amerikanischen Truppen in die Stadt zu führen. Der Offizier sprach Befehle in die Funkanlage seines Panzers und von dem Augenblick an wurde kein Artilleriebeschuss mehr auf die Stadt
abgefeuert.
Der Offizier forderte mich auf, vorn auf dem Panzer Platz zu nehmen. Meine weiße Fahne hatte ich noch immer in der Hand. Bevor der Panzer losfuhr, riss mir ein Soldat die Fahne aus der Hand; was
er dabei sagte, konnte ich nicht verstehen. Der Panzer überholte einige andere Fahrzeuge und fuhr bis zur Panzersperre am Friedhof Als ich mich zufällig umblickte,
konnte ich sehen, dass der Amerikaner hinter mir seine Pistole auf meinen Rücken gerichtet hatte.
Am Friedhof stand
die Spitze der Panzer. Einige Panzer setzten sich in Bewegung und umfuhren die Sperre links, indem sie eine
kleine Strecke den Karlsberg hochfuhren.Vor der Panzersperre standen amerikanische Infanteristen. Ich sah auch einige kleine Personenwagen an der
Straße; in einen solchen Wagen wurde
ich eingeladen
und vom gleichen Offizier in die Stadt bis zur Volksbank (Ecke Karl– und
Schillerstraße) gebracht. An den Häusern waren in Deckung einige amerikanische Infanteristen. Deutsches Militär war nicht zu sehen. Die Straßen
waren wie ausgestorben, ich sah nicht einen einzigen Menschen außer den arnerikanischen Soldaten. Erst jetzt wurde mir klar, dass die Amerikaner mich erbarmungslos als Verräter behandelt hätten, wenn sie in der Stadt Widerstand vorgefunden hätten; mit Recht hätten sie dann annehmen müssen, dass ich sie in eine Falle hätte führen wollen.
Die Amerikaner hatten sich inzwischen langsam bis zur Karlstraße vorgearbeitet und die Eckhäuser der Karlstraße mit Infanteriewaffen beschossen. An der
Volksbank gab der Offizier Befehl, auch das Infanteriefeuer einzustellen. Der Offizier fordere mich nun auf, den Bürgermeister oder seinen Vertreter beizuholen. Weil ich nicht wusste, ob irgendwo anders noch amerikanische
Soldaten warm, griff ich mir aus einem an der Straße offen liegenden Tornister eine weiße Unterhose und schwenkte diese, als ich die
Karlstraße in Richtung Schwanenplatz entlang lief. Es konnten ja auch noch deutsche Soldaten in den Häusern verborgen sein, die ich dadurch zum Einstellen
des Feuers veranlassen wollte.
Mein Weg führte mich die Karlstraße bis zur Langen Straße, dann über den Marktplatz, Scbweinemarktplatz und Schwanenplatz zur Engelbrauerei. Keine Menschenseele war auf den Straßen. Ich wusste nicht, wo ich den Bürgermeister suchen sollte Mir kam der Gedanke, dass unter den
vielen Leuten, die regelmäßig im Luftschutzraum des "Engel" Schutz suchen, jemand den Aufenthalt des Bürgermeisters wissen könne. Aber niemand konnte meine Frage beantworten. Ich teilte den Anwesenden mit; dass die Amerikaner in der Stadt seien und dass die Beschießung eingestellt sei. Nach kurzer Zeit trat ich in Begleitung des Herrn FACH auf die Straße. Amerikanische Infanteristen kamen soeben vom Schwanenplatz in
Richtung Schlossplatz und riefen uns an. Wir hoben die Hände und gingen auf die Soldaten zu. Sie verlangten jemand, der englisch sprach. Auf unser Rufen kam eine junge Dame aus dem Hause. Die
Amerikaner fragten, wo das Telefonamt sei und ich wurde beauftragt, zwei Soldaten dorthin zu führen. Die Soldaten schnitten lediglich die Fernverbindungsdrähte
durch, ließen aber die übrigen Einrichtungen bis auf die Mitnahme von Kleinigkeiten unbeschädigt. Mir wurde bedeutet, im Postamt zu bleiben.
Die Besetzung der Stadt vollzog sich ohne besondere Ereignisse. Man konnte hören, wie die Panzer unaufhörlich in die Stadt rollten. In der Nacht fing
plötzlich das Haus der Bäckerei Strobel an zu brennen. Offensichtlich entstand das Feuer durch Brandgeschosse.
Durch den von Nordwesten kommenden Wind bestand die Gefahr, dass die Gastwirtschaft Kellermann ebenfalls in Brand
geriet. Die in der Post anwesenden Männer haben die ganze Nacht Brandposten ausgestellt, um bei einem Übergreifen des Brande sofort zur Stelle zu sein.
Die Bevölkerung, die die Nacht in ihren Kellern zubrachte,
hatte ängstliche und unruhige Stunden hinter sich und begrüßte es, dass der Amerikaner am Morgen erlaubte, für kurze Zeit auf die Straße zu gehen.
Alles atmete auf, dass die Besetzung der Stadt so ruhig verlaufen war und fast alle waren der Meinung, dass
nun der Krieg für die Stadt zuende sei. Tatsächlich waren alle Straßen der Stadt mit amerikanischen Panzern angefüllt.
Mein Weg am Morgen führte
mich in Richtung Kalk-Mühle, bis hinaus über den Engelkeller, um meine Familie in die Stadt zu holen. Die Stadtgrenze wo meine Familie wohnte, war mir zu unsicher. Die Straßen an der Stadtgrenze waren mitTretminen belegt. Die Panzer an der westlichen Stadtgrenze waren gut hinter
Häusern getarnt; konnten aber ihrerseits wieder ihren Geländeabschnitt gut beherrschen.
Leider hatten die Amerikaner nicht erlaubt, die intakte Jagstbrücke ein zweites Mal zu überschreiten. Es blieb also
nichts weiter übrig, als in einem Luftschutzkeller vor der Jagstbrücke Zuflucht zu suchen, Die folgenden Stunden waren nicht sehr erfreulich. Alle Augenblicke kamen Soldaten ins Haus, die die oberen Räume durchsuchten und alle Schränke,
Schubladen usw. durchwühlten. Regelmäßig kamen sie auch in den Keller und fragten nach Girls und nach Schnaps. Manche von ihnen waren freundlich,
wenn sie auf englisch Auskunft erhielten. Einige unterhielten sich längere Zeit mit uns und verteilten Zigaretten. Unsereim Keller anwesenden Frauen wurden auf
alt und hässlich zurecht gemacht, eine Maßnahme, die leider sehr nötig war.
Unangenehm war die zweite Nacht nach der Besetzung durch das plötzlich alle paar Stunden einsetzende Werfer-Feuer einer deutschen Batterie, welche
in ,einiger Entfernung der Stadt stehen musste. Allen im Keller war klar, dass dieser Aufenthalt keine genügende Deckung bot. Wir waren entschlossen, den Amerikaner zu bitten, uns den Umzug nach dem Bunker am
Schlachthaus zu gestatten. Schmerzlich war es für eine junge Dame aus unserem Keller, als sie am
Morgen ihren Schwiegervater erschossen auf der Straße fand. Ich hatte den Mann am Tage zuvor noch gewarnt,
sich auf der Straße zu zeigen, aber er beachtete meine Warnung nicht.
Frauen, Kinder, alte Männer in einem engen Keller zusammengedrängt, keine Möglichkeit, sich
irgendwie zu bewegen – das erfordert gewaltige Anforderungen an die Nervenkraft aller Beteiligten. Ich wunderte mich immer und immer wieder, wie alte
Leute die Aufregung der folgenden Tage überstanden, ohne erheblichen Schaden an ihrer Gesundheit zu nehmen.
Alle Augenblicke kamen amerikanische Soldaten, angeblich um nach deutschen Soldaten zu suchen, und alle paar Stunden setzte das Werferfeuer ein. In der
Nacht sah man die Brände in der Stadt da und dort leuchten.
An manchen Tagenwar es erlaubt,
eine kurze Zeit auf die Straße zu gehen. Viele benützten diese
Gelegenheit, um sich das Notwendigste aus der Wohnung zu holen, und alle haben auf den Augenblick gewartet, an dem der Amerikaner seinen Vormarsch fortsetzt.
Viele Leute im Keller hatten nicht ein Stück Brot mehr.
Schon nach zwei Tagen waren fast alle mitgebrachten Vorräte verzehrt. Es war ohne große Bedeutung; dass zwei Bäckereien in der Stadt am Morgen und
Abend Brot verkauften; die wenigsten konnten etwas erhalten. Zuletzt waren die vorhandenen Nahrungsmittel restlos
aufgebraucht. Unter Lebensgefahr ging mancher bei Dunkelheit in seine Wohnung, um irgend etwas Essbares
aufzutreiben. Langsam sickerte auch diese oder jene Nachricht durch von vergeblichen Angriffen weniger deutscher SS–Männer und deutscher Soldaten. Im
Zentrum der Stadt hatte man von diesen Angriffen nichts gehört und nichts gesehen.
Als die Amerikaner plötzlich am
Spätnachmittag des 10. April sich in Richtung Haller Straße und Jagstbrücke zurückzogen, konnte man
diese Bewegung lange Zeit nicht als Rückzug erkennen. Es war weder Artillerie- noch Infanteriefeuer zu hören. Auffällig war nur, dass auf den Panzern außen viele Zivilisten saßen, es handelte sich überwiegend um Franzosen, die der Amerikaner auf seinem Rückzug mit sich nahm. Polen und Ostarbeiter waren nicht dabei. Erst durch einen bekannten Franzosen konnten wir in unserem Keller in Erfahrung bringen, dass der Amerikaner sich
aus der Stadt zurückzog.
Vor dem Rückzug wurde der gesamten Bevölkerung verboten, die Keller zu verlassen und die Straße zu betreten. Dass der Rückzug auch dem deutschen Militär
überraschend kam, ist daraus zu ersehen, dass erst gegen 11 Uhr abends SS–Späher in Zivil in die Stadt kamen und
sich über die Verhältnisse unterrichteten. Die deutschen Einwohner waren zum großen Teil schon seit Stunden wieder auf der Straße und haben
vielfach die von den Amerikanern verursachten Brände zu löschen oder wenigstens Hab und Gut zu retten
versucht.
Aus bestimmten Gründen habe ich selbst es
vorgezogen, vor Tagesanbruch mit Frau und Sohn und ganz geringem Gepäck
die Stadt zu verlassen.
Einen nie zu vergessenden Eindruck hat es verursacht;
als ich bei dieser Gelegenheit eine Anzahl toter deutscher Soldaten in der Schönebürgstraße und in der Talsenke südlich davon liegen sah. Auf engem
Raum im Umkreis von vielleicht hundert Metern habe ich 19 Tote gezählt, Diese waren das Opfer eines unsinnigen Gegenangriffes, an dem weniger Soldaten beteiligt waren, als amerikanische Panzer in der Stadt standen.
Anmerkung:
Bürgermeister Fröhlich in seiner Spruchkammeraussage: „Nach der Beendigung der ersten Besetzung kamen fünf Gestapo-Beamte aus Stuttgart zur Überprüfung des Verhaltens der Crailsheimer gegenüber den
Amerikanern nach Crailsheim.